Das essayistische Prinzip

Projektleitung: Thomas Strässle

Der Essay steht an der Schnittstelle von Wissenschaft und Kunst. Von beiden hat er etwas, und von beiden unterscheidet er sich. Wie die Wissenschaft verfolgt er ein Erkenntnis­interesse, und wie die Kunst erhebt er einen Anspruch auf ästhetische Autonomie. Das essayistische Prinzip kann als Modus des ästhetischen Denkens beschrieben werden, der Ästhetik und Epistemik originär und performativ ineinander verschränkt und im Vollzug der kompositorischen Darstellung Wissen erzeugt – nicht im Sinne eines externen Regiments, das über seine Materialien und Methoden verfügt, sondern im Sinne einer Praxis, die in und aus den Materialien und Prozessen heraus denkt.

Als ein Verfahren, das noetische und ästhetische Ansprüche in einer ambiguosen Gleichursprünglichkeit erhebt, lässt sich das essayistische Prinzip nicht auf ein bestimmtes Medium begrenzen. Es kann sich ebenso im Medium des Philosophischen oder Literarischen wie im Medium des Fotografischen (Fotoessay) oder Filmischen (Filmessay) artikulieren – und darüber hinaus möglicherweise auch in Sounds, in Performances, in Installationen, im Tanz oder in der Architektur etc. Es bleibt jedoch die Frage nach den umgreifenden oder je eigenen Artikulations- und Argumentationsformen. Wenn es zutrifft, dass das essayistische Prinzip den traditionellen Begriff der Methode suspendiert – was tritt dann an dessen Stelle? Inwieweit handelt es sich beim essayistischen Prinzip um eines, das abhängig oder unabhängig von seiner medialen Vollzugsform zu denken ist? In welchen Formen und Formaten vollzieht es sich überhaupt? Gibt es rekurrente Modi der ästhetischen Kom-Position, die es erlauben, von einem essayistischen Prinzip als solchem zu sprechen? Oder manifestiert es sich in den jeweiligen Medien je unterschiedlich? Und falls dem so wäre: Worin besteht die Vergleich­barkeit oder Ähnlichkeit von literarischen, philosophischen, fotografischen und filmischen etc. Essays? Mit anderen Worten: Worin liegt die Rede vom Essayistischen, die sich in aktuellen ästhetischen Diskursen weit über das Literarische und Philosophische hinaus erstreckt, auf den jeweiligen Feldern begründet? Inwieweit ist es ein metaästhetisches Prinzip?

Epistemiken des Essayistischen – Zur Praxis Harun Farockis

Der Essay gilt einer Literaturwissenschaft mit gattungsdefinitorischen Ambitionen als kaum domestizierbar. Sowie sich ein Bewegungsablauf nur bedingt an einem sezierten Tier studieren lässt, so scheint es unergiebig, sich bei der Beschäftigung mit der notorisch proteischen Form aufs Innerste zu konzentrieren. Anstatt also zu fragen, worum es sich beim Essay handelt, lenkt diese Arbeit den Fokus auf dessen Erkenntnis.

Auf die Frage, wodurch der Essay den von ihm suspendierten Methodenbegriff ersetzt, sucht sie eine Antwort in der künstlerischen Praxis Harun Farockis. Diese wird zum Modell, an dem aus medienübergreifender Perspektive in Erfahrung gebracht werden soll, inwiefern es sich beim Essay um ein genuines Erkenntnisverfahren handelt.

Spätestens seit Adornos Reflexionen zum Essay besteht die These, dass sich in essayistischen Verfahrensweisen Erkenntnisse nicht an einem transzendentalen, immateriellen Ort generieren, sondern in der Auseinander­setzung mit den Bedingungen der Vermittlung hervorgebracht werden.¹ Vor anderen epistemischen Verfahren wird so der Notwendigkeit der Vermittlung Rechnung getragen. Ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt die allmähliche Verfertigung der Gedanken durch die vermittelnden Praktiken, anstatt diese auf ihre vermittelnde Funktion zu reduzieren.

Aus produktionsästhetischer Perspektive scheint es folglich opportun, bei der Analyse der Verfahrensweise des Essays nicht nur auf die fertigen Erzeugnisse zu achten, sondern das Forschungsfeld im Sinne Robert Musils Begriff des Essayismus als Geisteshaltung zu erweitern: Unter welchen materiellen, ökonomischen und sozialpolitischen Bedingungen formiert sich eine essayistische Arbeitspraxis? Und in wessen Dienst stellt sich diese?

Harun Farockis Werk, das unzählige Texte, über neunzig Filme und zahlreiche Ausstellungen umfasst, bietet die einmalige Gelegenheit, die ethische Praxis des Essayismus, nicht nur auf der Schnittstelle unterschiedlicher Medien zu studieren. Die Selbstreflexivität seines Werkes, die in Film- und Fernseharchiven aufgefundenen Produktionsmappen einzelner Werke und eine nach wie vor aktive Gemeinschaft von Forschenden und Freunden Farockis schaffen darüber hinaus die Bedingungen, ein neues Licht auf die Epistemiken des Essayistischen aus praxeologischer Sicht zu werfen.

 


¹ Vgl. Adorno, Theodor W. «Der Essay Als Form.» In Noten Zur Literatur. Bibliothek Suhrkamp. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1958.